Sektorkopplung, das Klimaneutralitätsnetz und Regulierung – Der Whole System Approach als Lösungsansatz

Dieser Beitrag wurde gemeinsam mit Anna Pechan erstellt.

Mit der Dekarbonisierung des Energiesystems nimmt die Interpendenz der einzelnen Energiesektoren signifikant zu, wie am Beispiel Wasserstoff und der Idee eines “Klimaneutralitätsnetz” offensichtlich wird. Um Ineffizienzen zu vermeiden, wird ein Gesamtsystemansatz (Whole System Approach) der Regulierung benötigt. Wir erklären hier, was hinter diesem Ansatz steckt und wie er umgesetzt werden könnte.

1      Hintergrund

Ein beschleunigter Ausbau erneuerbarer Energie ist ohne Zweifel der Schlüssel hin zu einer nachhaltigen Energieversorgung. Bei der Umsetzung der Ausbauziele muss jedoch berücksichtigt werden, dass die einzelnen Energiesektoren zukünftig immer stärker zu einem Klimaneutralitätsnetz zusammenwachsen und daher wechselseitig voneinander abhängig sind. Auf absehbare Zeit werden die Stromnetze ein Nadelöhr der Energiewende bleiben, so dass bei der Sektorenkopplung auf die Netzsituation Rücksicht genommen werden muss.

So gilt beispielsweise bei der geplanten Elektrifizierung des Transportsektors, dass Ausbau und Betrieb der Ladeinfrastruktur netzverträglich erfolgen müssen, um den kostenintensiven Ausbaubedarf der Stromnetze zu begrenzen. Vielen Sektorenkopplungsanlagen wie der Elektrolyseure fällt dabei eine Doppelrolle zu: Neben ihrem hauptsächlichen Zweck, der Erzielung von Markterlösen, können und sollten sie bei Bedarf auch stromnetzentlastend eingesetzt werden.

Dass die Vernetzung der Sektoren derzeit noch nicht in effizienter Weise funktioniert, ist nicht zuletzt ein regulatorisches Problem: Der Regulierungsrahmen ist schlichtweg noch nicht auf die zunehmende Verschmelzung von Rollen und Verantwortlichkeiten innerhalb der regulierten und unregulierten Energiebereiche ausgerichtet. Die Sektoren werden weitgehend separat geplant und optimiert, während die Optimierung aus Gesamtsystemsicht häufig zu kurz kommt. Genau diese rückt unter dem Begriff Whole System Approach (WSA) inzwischen stärker in den Vordergrund.

 

2      Whole System Approach

Der Rat der europäischen Energieregulierungsbehörden (CEER) hat den Whole System Approach (WSA) als eine der zentralen regulatorischen Herausforderungen erkannt. Energienetzbetreiber sind rechtlich und wirtschaftlich weitgehend vom Gesamtsystem entflochten und haben gesetzlich festgelegte Aufgabenbereiche zu erfüllen. Entsprechend abgegrenzt sind auch die regulatorischen Vorgaben.

Gleichzeitig gehen von den Entscheidungen der einzelnen Netzbetreiber jedoch Wirkungen auf die Energiemärkte aus und umgekehrt. Werden diese Wechselwirkungen nicht berücksichtigt, können individuelle Optimierungen einer Gesamtsystemoptimierung im Weg stehen. Dieses Problem kann sowohl für die Schnittstellen zwischen den Wertschöpfungsstufen innerhalb eines Sektors gelten als auch den Schnittstellen zu anderen verbundenen Sektoren wie Gas, Wärme oder Telekommunikation.


CEER unterscheidet drei Ebenen des WSA, die genau diesen Schnittstellen entsprechen, an denen Koordinationsprobleme auftreten können. Abbildung 1 gibt einen Überblick über die drei Schnittstellen.

Abbildung 1: Drei Ebenen einer Gesamtsystemoptimierung (whole system approach).
Quelle: eigene Darstellung basierend auf CEER (2020)

 

2.1.     Whole-network approach

Der Whole-network approach betrifft den Abstimmungsbedarf innerhalb der regulierten Energienetze, im Strombereich also zwischen den verschiedenen Übertragungs- und Verteilnetzen. Die Netzbetreiberkoordination ist angesichts von vier Übertragungs- und nahezu 900 Verteilnetzen in Deutschland eine erhebliche Herausforderung, wie etwa im Kontext von Redispatch 2.0 offensichtlich wird. Hintergrund ist dabei vor allem die Dezentralisierung: Die Zunahme dezentraler Erzeugung verschiebt das Flexibilitätspotenzial in die Verteilnetze und erfordert ein aktiveres Verteilnetzmanagement, das das bisherige Kaskadenmodel vermehrt infrage stellt.

2.2.     Whole-chain approach

Der Whole-chain approach bezieht sich auf den Koordinationsbedarf zwischen dem regulierten Stromnetzbereich und den Strommärkten. Damit zeigt der WSA auch die Grenzen der Entflechtung auf und weist auf einen Trade-off hin: Die Trennung der Energienetze von den Marktaktivitäten fördert einerseits den Wettbewerb, indem eine Diskriminierung der Netznutzer durch den monopolistischen Netzbetreiber verhindert wird. Andererseits führt die Fragmentierung des Sektors zu Koordinationsverlusten.

Ein Beispiel, das dieses Problem illustriert, sind Multi-Use-Speicher, die am effizientesten bedarfsweise netz- und marktseitig eingesetzt werden. Hier besteht das Problem, dass es einem entflochtenen Netzbetreiber nicht gestattet ist, Markterlöse zur Refinanzierung des Speichers zu erzielen, während sich ein reiner Netzspeicher in der Regel nicht lohnt und auch volkswirtschaftlich ineffizient wäre.

Umgekehrt reichen die Markterlöse alleine auch nicht aus, eine Investition in einen reinen Marktspeicher anzureizen. Es stellt sich somit die Frage, wie eine Kooperation zwischen Netzbetreibern und Marktinvestoren ermöglicht wird, die die ökonomisch richtigen Anreize setzt ohne die für einen funktionierenden Wettbewerb notwendigen Entflechtungsregeln grundsätzlich außer Kraft zu setzen (siehe Meyer et al. (2017) für eine Diskussion der Problematik und möglicher Lösungsansätze).

2.3.     Cross-systems approach

Der Cross-systems approach betrifft schließlich die Sektorenkopplung und zielt damit auf den Koordinationsbedarf zwischen den verschiedenen Sektoren ab. Hier wird es besonders komplex, da in der Regel unterschiedliche Regulierungsvorgaben betroffen sind, die unter Umständen unzureichend aufeinander abgestimmt wird. In einigen Fällen, wie der Wärmeversorgung und der zukünftigen Wasserstoffinfrastruktur, bestehen entweder (noch) gar keine einheitlichen Regulierungsvorgaben oder sind zumindest noch nicht im Detail ausgestaltet.

Gerade beim Ausbau und der Regulierung der Wasserstoffinfrastruktur zeigt sich die Herausforderung der Gesamtsystembetrachtung besonders deutlich, da es hierbei Strom-, Gas- und Transportsektor zu koordinieren gilt. Dabei treten nicht nur umgestellte Gasleitungen und neu zu errichtende Wasserstoffnetze in Konkurrenz zu einander, sondern auch marktliche Transportoptionen, wie der LKW-Transport. Wie kann eine gesamtwirtschaftlich optimale Errichtung und Betrieb der Wasserstoffinfrastrukturen angesichts der zahlreichen regulierten und unregulierten Akteure sichergestellt werden? Wie kann eine effiziente Entscheidung über die mögliche Umstellung von Gasleitungen für den Wasserstofftransport erreicht werden, und wie bzw. durch wen soll diese finanziert werden (vgl. Brunekreeft et al., Regulierung von Wasserstoffleitungen – Verzerrungen vermeiden durch Best Alternative Price Regulierung, forthcoming Bremen Energy Working Paper )?

3 Ein Ansatz zur Umsetzung: Output-orientierte Regulierung

Betrachtet man den Whole System Approach aus regulatorischer Sicht, wie es CEER naturgemäß auch tut, so lautet die Frage: Wie kann ein Netzbetreiber mittels regulatorischer Anreizinstrumente dazu angereizt werden, eine Koordinationsfunktion zu übernehmen, die eine effiziente Entwicklung des Energiesystems über den einzelnen Sektor hinaus fördert?

Ökonomisch betrachtet resultieren die Koordinationsprobleme aus externen Effekten: Individuelle Optimierung durch einen Akteur berücksichtigt in der Regel nicht die Auswirkung des Handels auf die anderen Akteure und damit das Gesamtsystem. Die ökonomische Antwort auf das Problem ist die Internalisierung der externen Effekte. Gelingt es, die positiven oder negativen Auswirkungen auf das Gesamtsystem in den regulatorischen Anreizen „einzupreisen“, resultieren im Idealfall gesamtsystemoptimale Anreize. Die output-orientierte Regulierung (OOR) versucht genau das und wäre damit ein Kandidat für eine zukunftsweisende Weiterentwicklung der Anreizregulierung in Deutschland (vgl. Brunekreeft et al., 2021). Angewendet wird OOR im Prinzip schon heute beim Qualitätselement, indem die Ausfallkosten direkt in ein Bonus-Malus-System umgesetzt und damit vom Netzbetreiber internalisiert werden. Eine weiterreichende Umsetzung über Sektorgrenzen hinweg ist sicherlich nicht trivial und erfordert die Klärung offener Fragen. Der britische Regulierer Ofgem verfolgt diesen Weg jedoch schon länger und hat auch die WSA-Problematik erkannt. Auch in Deutschland beginnen aktuell die Diskussionen zu einer möglichen Umsetzung des WSA, wie etwa auch der Beitrag der BNetzA auf dem letzten dena Kongress mit dem Titel „Whole System Approach“ zeigt. Trotzdem würde sich sicherlich für den Gesetzgeber in Deutschland und auch die Bundenetzagentur sich ein Blick über den Ärmelkanal anbieten, um das WSA-Konzept weiter zu konkretisieren.


Roland Meyer

Roland ist Experte für Regulierungsfragen und Modellierungen.

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