Stranded Asset Risiken bei der Erdgasinfrastruktur – Internationale Ansätze und Anwendung auf Deutschland
Hintergrund
Die aktuelle EU-Regulierung sieht vor, dass die Versorgung mit fossilem Erdgas spätestens 2045 endet (vgl. Richtlinienentwurf zur Gasversorgung der EU Kommission). Gleichzeitig ergeben sich neue Anwendungsfelder für die Erdgasinfrastruktur, etwa zum Transport von Wasserstoff oder auch CO2. Fraglich ist, wie der regulatorische Rahmen diese Unsicherheiten zum zukünftigen Nutzen der Erdgasinfrastruktur aufgreift. Im Fokus steht dabei die Frage, wie sunk investments bei den vorhandenen Erdgasleitungen vermieden, die Kosten zwischen den heutigen und zukünftigen Netznutzern fair verteilt und eine effiziente Umnutzung von Erdgasleitungen für den Transport anderer Medien (H2, CO2) sichergestellt werden kann. Diese Diskussion greifen wir hier auf und vertieft insbesondere die Frage, wie international mit einem stranded asset Risiko bei der Erdgasinfrastruktur umgegangen wird.
Stand der internationalen Debatte
International fokussieren sich aktuell verschiedene Regulierer auf den Umgang mit stranded asset Risiken bei Gasleitungen. In mindestens sieben Ländern wurden bereits Maßnahmen ergriffen, um das stranded asset Risiko bei Erdgasleitungen zu reduzieren bzw. die Kosten der stranded assets zwischen den Netzbetreibern und den Netznutzern aufzuteilen. Die folgende Abbildung gibt eine Übersicht über verschiedene Handlungsoptionen, die international bereits umgesetzt wurden (markiert durch ein „X“).
Im Folgenden skizzieren wir die Ansätze, wie diese in dem jeweiligen Land diskutiert oder umgesetzt wurden.
Anpassung der Abschreibungsdauer
Die Anpassung der Abschreibungsdauer für Erdgasleitungen, bei denen ein stranded asset Risiko besteht, ist die häufigste Maßnahme, die international schon in verschiedenen Ländern ergriffen wurde. Auch in Deutschland findet diese Maßnahme u.a. für die neu zu errichtenden LNG-Anbindungen an das bestehende Erdgasnetz und neue Investitionen ab 2023 Anwendung. Hier ermöglicht die BNetzA eine optionale Verkürzung der Lebensdauer und damit auch der Abschreibungsdauer bis 2045. Diese Regelung ist optional, um eine mögliche Umnutzung der Leitungen zu einem späteren Wasserstofftransport weiterhin offen zu halten (vgl. BNetzA 2022).
International findet dieses Instrument jedoch auch schon im Bestand Anwendung. Am weitreichendsten ist dabei die aktuelle Regulierung in Neuseeland, die eine Reduktion der Abschreibungsdauer für alle Netzassets im Gasnetz vorsieht, die effektiv zu einer weitreichenden, wenn auch nicht kompletten Risikoreduzierung führt. Ein Restrisiko bleibt auch in Neuseeland bestehen, da hohe Unsicherheiten in Bezug auf die Nutzung der Infrastruktur zum Transport klimaneutraler Energieträger bestehen, so dass ein Restbuchwert für 2060 noch eingeplant ist, um dieses Restrisiko einzupreisen (NZCC 2022). Andere Länder haben auch bereits eine Kürzung der Abschreibungsdauer in der Gasverteilnetzinfrastruktur eingeführt, diese aber stärker eingegrenzt als im Falle Neuseelands. So wurde in Frankreich die Abschreibungsdauer für bestimmte Anlagen (Hausanschlüsse, Gebäude- und Steigleitungen, die 2005 oder später in Betrieb genommen wurden) ab 2020 von 45 auf 30 Jahre gesenkt (CRE 2020a). In Belgien wurden für die aktuelle Regulierungsperiode 2020 – 2023 alle Gasleitungen von Fluxys, die nach 2000 gebaut wurden, die Abschreibungsdauer bis 2050 gekürzt (CREG 2018). In Australien gibt es bereits die Möglichkeit die Abschreibungsdauer einzelner Leitungen zu kürzen, jedoch erst nach einer individuellen Bewertung (AER 2021).
Anpassung des Abschreibungsprofils
Neben der Anpassung der Abschreibungsdauer wurde in Großbritannien und den Niederlanden das Abschreibungsprofil, also der Anteil, der jährlich abgeschrieben wird, angepasst. In Großbritannien wurde für alle Investitionen seit 2002 ein front-loaded Profil angewandt, in dem basierend auf der Sum-of-Years Digits Methode die jährliche Abschreibungssumme angepasst wurde. Im Kern führt diese Maßnahme dazu, dass die Abschreibungssumme zu Beginn der Abschreibungsdauer höher liegt, um mit der Zeit signifikant zu fallen. Heutige Netznutzer tragen also einen überproportionalen Anteil an den Netzkosten im Vergleich zu den zukünftigen Kunden (Ofgem, 2021). Ähnlich ist man in den Niederlanden verfahren, in dem dort ein Anpassungsfaktor eingeführt wurde, der dazu führt, dass ein höherer Anteil der Abschreibungssumme zu Beginn der Abschreibungsdauer abgeschrieben wird. Aktuell nutzt man einen Anpassungsfaktor von 1,3, der so lange gilt, bis die jährliche Abschreibungssumme unter das Niveau fällt, das bei einer linearen Abschreibung gegolten hätte. Sobald dieses Niveau unterschritten wird, bleibt die Abschreibung konstant und der Anpassungsfaktor wird nicht mehr angewandt. So entsteht zunächst auch ein front-loaded Abschreibungsprofil, das aber weniger stark und auch nicht über die gesamte Abschreibungsdauer rechtschief ist. Diese Regelung in den Niederlanden gilt dabei sowohl für den Fernleitungsnetzbetreiber GTS als auch die Erdgasverteilnetzbetreiber, wobei 10% der Assets pauschal von der Regelung ausgenommen sind, um einem möglichen Umnutzungspotenzial Rechnung zu tragen (ACM 2021).
Anpassung der Kapitalverzinsung
Einen anderen Weg zur Adressierung des stranded asset Risikos haben die Regulierer in Frankreich und Österreich eingeschlagen. In beiden Ländern wurden Anpassungen bei der Kapitalverzinsung eingeführt, um das stranded asset Risiko zu adressieren. So wurde in Österreich eine Kapazitätsrisikoprämie auf die Eigenkapitalkosten aufgeschlagen. Diese Prämie ist an das von den Betreibern übernommene Mengenrisiko gebunden und besteht aus zwei Teilen: Zum einen aus einem sektorweiten Aufschlag in Höhe von zusätzlichen 3,5 % auf die Kosten der Eigenkapitalzulage, zum anderen aus einer individuellen Risikoprämie, die auf dem geschätzten Kapazitätsrisiko für ein bestimmtes reguliertes Netz basiert. Die Besonderheit des österreichischen Ansatzes liegt hier nun darin, dass die Netzbetreiber die zusätzlichen Einnahmen aus der Risikoprämie als Reserve zur Absicherung des Kapazitätsrisikos einbehalten müssen (seit RP 2021-24 zu 100%, vorher 50%), d.h. die Einnahmen dürfen nicht an die Aktionäre ausgeschüttet werden. Die Reserve darf aber eingesetzt werden, wenn das Mengenrisiko eklatant wird, um Mindererlöse abzudecken. In Frankreich wurde hingegen lediglich die WACC 2020 sowohl im Gasverteilnetz als auch im Fernleitungsnetz unter Berücksichtigung eines höheren beta-Faktors für die Anlagen ermittelt (von 0,45 auf 0,5 (Fernleitung) bzw. von 0,4 auf 0,48 (VN)), um die finanziellen Risiken (insbesondere durch stranded costs) abzubilden (CRE 2020a, 2020b).
Unsere erste Einschätzung
Eine anteilige Reduktion des stranded asset Risiko für den Netzbetreiber durch die Anpassung des Abschreibungsprofils über einen flexiblen Anpassungsfaktor analog zur Umsetzung in den Niederlanden kann ein effektiver Weg sein das stranded asset Risiko für die Netzbetreiber zu reduzieren. Es verbleibt aber ein Restrisiko bei den Netzbetreibern. Unsere Modellergebnisse zeigen, dass bei entsprechender Wahl des Anpassungsfaktors, die Kostenverteilung zwischen heutigen und zukünftigen Kunden voraussichtlich dadurch ausgeglichener wird als ohne Anpassung (genaue Verteilung hängt jedoch vom tatsächlichen Verlauf der Nachfrage und vom Anpassungsfaktor ab). Da insbesondere zur Nachfrageentwicklung hohe Unsicherheiten bestehen, bietet sich der Weg über einen Anpassungsfaktor ebenfalls an, da dieser buchstäblich flexibel über die Zeit angepasst werden kann, um neuen Informationen zur Nachfrage gerecht zu werden.
Nutzt man den Ansatz über den Anpassungsfaktor, so verbleibt ein Restrisiko bei dem Netzbetreiber. Hier gibt es dann verschiedene Optionen, um mit diesem Restrisiko zu verfahren. Möglich wäre auch eine ergänzende Kürzung der Abschreibungsdauer in Kombination mit der Einführung eines Anpassungsfaktors. Dies würde aber bedeuten, dass das komplette stranded asset Risiko durch die Netznutzer getragen werden müsste. Dies wäre vor dem Hintergrund Verursachergerechtigkeit zu prüfen. Fraglich ist dann auch, welche Rückwirkungen auf die Nachfrage durch eine Kombination der Instrumente entstehen könnten. In einem extremen Fall könnte dies etwa bei einer elastischeren Nachfrage bedeuten, dass das stranded asset Risiko nur nach vorne gezogen wird, da die Nachfrage wesentlicher schneller sinkt als zur Definition des Anpassungsfaktors und der Kürzung der Abschreibungsdauer angenommen wurde. Alternativ könnte der Staat das verbleibende Restrisiko nach Anwendung eines Anpassungsfaktors anteilig übernehmen. Dies hätte den Vorteil, dass der Staat als Mitverursacher des stranded asset Risikos anteilig an der Deckung des Risikos beteiligt wird.
Grundsätzlich besteht immer dann, wenn ein Restrisiko bei dem Netzbetreiber verbleibt, die Option, dieses Risiko zu nutzen um Effizienzanreize über einen Anreizmechanismus in der Anreizregulierung (vgl. Brunekreeft et al (2020a & 2020b)) zur Reduktion des Risikos zu setzen, etwa durch Umnutzung, da nicht davon auszugehen ist, dass die Netzbetreiber gar keinen Einfluss auf das stranded asset Risiko haben.
Ausblick und weiterführende Fragen
Die Debatte zum möglichen Umgang mit stranded asset Risiken bei den Gasnetzen steht in Deutschland erst am Anfang. Wir skizzieren hier nur eine erste Grundlage, um einen möglichen Mechanismus zur Reduktion des stranded asset Risikos bzw. dessen Aufteilung zwischen Netzbetreiber, Netznutzer und Staat zu identifizieren. Die genaue Ausgestaltung eines solchen Mechanismus, der eine Aufteilung des stranded asset Risikos über die Nutzung eines Anpassungsfaktors und unter Anwendung eines Anreizmechanismus für den Netzbetreiber vorsieht, ist dabei noch offen und müsste detaillierter untersucht werden. Dabei gilt es insbesondere die Rolle der Nachfrage, deren Elastizität und Verlauf genauer zu analysieren, da diese einen erheblichen Effekt auf das stranded asset Risiko, und wann sich dieses in welchen Umfang manifestiert, haben kann.
Ebenfalls offen ist aktuell, wie Kosten zur Stilllegung oder zum Rückbau der Erdgasnetze (insbesondere auf der Verteilnetzebene) behandelt werden sollten. Hierbei handelt es sich um ein weiteres zentrales Handlungsfeld, das im Rahmen des Projekts skizziert wurde, aber nicht Teil der Detailanalyse war. Genau diese Frage rückt aber aktuell in den Fokus der öffentlichen Debatte.